Rezension: Julia Shaw - Böse. Die Psychologie unserer Abgründe

 
 
 

Katastrophen-tourismus, wertfrei

Julia Shaw arbeitet in ihrem Buch auf ein neues Verständnis des Bösen hin – und will es aus der Welt schaffen.

Julia Shaw hat ein gutes Buch geschrieben. In diesem wies sie auf die nachträgliche Formbarkeit von Erinnerungen hin. Sie beschrieb, wie sie suggestive Techniken nutzte, um Menschen falsche Erinnerungen einzupflanzen, etwa an Straftaten, die sie nie begangen hatten. Das schilderte sie in ihrem Bestseller Das trügerische Gedächtnis aus dem Jahr 2016.

Auch in ihrem Buch Böse. Die Psychologie unserer Abgründe geht es der Rechtspsychologin nun darum, etwas im Kopf ihrer Leser zu verändern. Sie arbeitet auf ein neues Verständnis des Bösen hin und will den Lesern helfen, ihre „eigenen Gedanken und Schwächen zu verstehen“. Zu diesem Zweck untersucht Shaw ein „Spektrum von Konzepten und Vorstellungen, die oft mit dem Wort böse assoziiert werden“.

Soziale Erklärungen

Terroristen etwa, sollte man denken, könnten als böse Menschen bezeichnet werden. Doch Shaw findet beim Blick in die Persönlichkeitspsychologie keinen Anhalt dafür, dass Terroristen im wissenschaftlichen Sinne „Psychopathen” wären. Stattdessen untersucht sie den Radikalisierungsprozess, der diese Menschen dazu bringt, andere umzubringen. Statt einer individualisierenden strebt sie in diesem Fall eine soziale Erklärung an.

Shaw sucht nach Erklärungen für alles, was als „böse“ bezeichnet werden kann. Ihre Botschaft ist, dass „Menschen von einer Kombination aus Gehirn, Veranlagung und sozialem System beeinflusst werden“.

Von Mördern trenne uns demzufolge vielleicht nur ein „nicht vollständig funktionierender präfrontaler Kortex“.

Shaw bricht in ihrem Buch auch eine Lanze für sexuelle Minderheiten, so dass überall Regenbogenfahnen flattern sollen. Ablehnende Haltungen erklärt sie zumindest teilweise über uneingestandene eigene sexuelle Neigungen der Homohasser. Also solle man auch mit diesen reden.“

So springt Shaw von Thema zu Thema: Es geht um Clowns und Sklaven, Nazis und Luftpiraten, BDSM und Cybertrolle. Ein Vorgehen, das sie selbst als „Katas­trophentourismus“ bezeichnet. Sie greift dabei zu sehr plakativen Etikettierungen, um diese im Anschluss wieder zu verwerfen, etwa wenn sie von der „Jagd auf Monster“, von einer „Freakshow“ unheimlicher Menschen, den „abartig Perversen“ sowie von „Männern als sexuellen Raubtieren“ spricht. Shaw hofft, durch dieses Vorgehen Verständnis für das Geschehene zu erzeugen und dadurch Ängste zu mindern. Ihr Fazit: „Menschliche Neigungen sind weder grundsätzlich gut noch grundsätzlich schlecht - sie sind einfach.“ Der resümierende Aufruf an die Leser lautet: „Bitte hören Sie auf, Menschen oder Verhaltensweisen oder Ereignisse als böse zu bezeichnen!“

Das Böse neu denken

Jedoch, könnte man ihr entgegenhalten, allein dadurch, dass man sie erklären und verstehen kann, werden die Dinge nicht wertfrei. Denn der Begriff des Bösen ist eng mit der Idee verbunden, dass das Leben Sinn und die Welt eine Ordnung hat. Dass Julia Shaw an dieser Ordnung so heftig rüttelt, erklärt vielleicht das ständige Durcheinander in der Argumentation des Buches. Shaw will „das Böse neu denken“. Zwar möchte sie den Begriff des Bösen am liebsten ganz abschaffen gleichzeitig bedient sie sich des Begriffes ununterbrochen selbst.

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(erschienen in Psychologie Heute 9/2019)

 
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