Jenaer Paradies – Das Pro und Contra
der hausärztlichen Versorgung von Panikanfällen aus psychologischer Sicht

 

Pro: Paradiesische Zustände Ein Plädoyer für das Jenaer Paradies

von Torsten Padberg

Paradise is exactly like where you are right now. Only much, much better! (Laurie Anderson)

Im Paradies bekommen Angstpatienten starke Schultern. Jedenfalls in Jena. Dort wird zurzeit die durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte „Patient activation for anxiety disorders“- Studie (kurz: PARADIES) am Institut für Allgemeinmedizin durchgeführt.

6,3 % aller Patienten der Grundversorgung leiden unter einer Panikstörung, viele komorbid mit einer Agoraphobie. Nur ein Bruchteil davon erhält die dafür richtige Behandlung. Bei vielen Patienten wird das Leiden gar nicht erst erkannt. Das hat schlimme Folgen. Für die Patienten, deren Lebensqualität und Arbeitsfähigkeit leidet. Für die Krankenkassen, die mit den Folgekosten durch Chronifizierung, Fehlbe- handlungen und Arbeitsunfähigkeit belastet werden. Für die Gesellschaft, der die auf diese Weise vergeudeten personellen und finanziellen Mittel an anderer Stelle fehlen. Eine hochkomplexe, stresserzeugende Gesellschaft wie die unsere steuert auf einen Zustand zunehmender psychischer Zerbrechlichkeit zu.

Die Universität Jena will das durch das Paradies-Projekt ändern. Panikattacken sollen schon in Hausarztpraxen erkannt und behandelt werden. Zuerst wird durch den Arzt die Diagnose gestellt und mit dem Patienten zusammen eine Konfrontationshierarchie festgelegt. Danach werden Reizkonfrontationen durchgeführt – von kurzen Telefonkontakten zwischen Arzthelferin und Patient begleitet. Diese Kombination aus ärztlicher Diagnostik und arzthelferlicher Unterstützung der Therapie bildet in der Terminologie der Jenaer Forscher die „starken Schultern“ für den Patienten. [....]

Die Vorteile auch für die PatientInnen sind offensichtlich:

 Niemand muss mehr lange auf einen Therapieplatz warten und so eine Chronifizierung seiner Störung riskieren.

  • Niemand muss mehr Angst vor einer lang dauernden Psychotherapie haben. Die Hemmschwelle zur Behandlungsaufnahme ist niedrig. Sie erfolgt unmittelbar beim bekannten Hausarzt. Die Arzthelferinnen sind ständige Ansprechpartner der Patienten.

  • Die aufgezeigten Lösungswege sind pragmatisch. Die Patienten lernen, ihre Symptome richtig einzuordnen und ihrer Angst aktiv zu begegnen.

  • So weist die standardisierte Behandlung bei aller Uniformität über sich hinaus in den Privatbereich des Klienten.

  • Niemand muss wertvolle Ressourcen hochqualifizierter Ärzte und Psychotherapeuten in Anspruch nehmen, nur um eine gut gesicherte, einfach durchzuführende Standardbehandlung zu erhalten.

  • Niemand muss mehr mit den Methoden der Vergangenheit seine aktuellen Probleme angehen. Psychotherapeuten, die dem Fortschritt der Wissenschaft in ihrem Alltagsgeschäft nicht mehr folgen können, kennen die inzwischen als am wirksamsten erkannten Verfahren oft nicht.

Sollte das Jenaer Paradies eines Tages fester Bestandteil der hausärztlichen Grundversorgung werden, kann sich auf diese Weise die tatsächlich wirksamste psychotherapeutische Praxis von den begrenzten Ressourcen der Psychotherapeuten emanzipieren. So erreicht das Wissen über psychische Krankheiten über den Umweg der Arztpraxis endlich in ausreichender Menge die leidenden Patienten.

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Contra: Verrückt vor Angst - Gedanken zum Jenaer Paradies

von Thorsten Padberg

Paradise is exactly like where you are right now. Only much, much better! (Laurie Anderson)

Forschung

Ein Mädchen, ihre Haare brennen, schreit „Feuer!" Ihr Schrei kündigt die Katastrophe an. 800 Menschen, verrückt vor Angst, verwandeln sich in einen wilden Mob. Flammen breiten sich mit ungeheurer Geschwindigkeit aus. Die Drehtür am Ausgang ist von der von Panik getriebenen Menge blockiert, die sie zugleich in beide Richtungen drehen will.

(Bericht des Newsweek Journal über das Boston Cocoanut Grove Club-Feuer von 1942)

Ein Teil der Überlebenden wird in die neugegründete psychiatrische Abteilung des Mass General Hospital in Boston gebracht. Der Leiter Stanley Cobb, eine Neuropsychiater, schreibt, das Personal sei besonders daran interessiert, „die physiologischen Symptome“ der Trauer bei denjenigen zu beobachten, die Freunde und Angehörige im Feuer verloren hatten. „Weil akute Trauer einer der am häufigsten zu findenden psychogenen Faktoren bei Patienten mit psychosomatischen Störungen ist“, biete sich eine hervorragende Gelegenheit für systematische Beobachtung und Forschung. Die Forscher finden: erweiterte Pupillen, Hitzewellen bis in den Kopf hinein, Hautrötung, Schwitzen, Seufzen.

1972 werden die sog. Feighner-Kriterien veröffentlicht; erste spezifische, beobachtbare diagnostische Kriterien für vierzehn psychiatrische Krankheitsbilder.

Therapie

Es gibt im Gesundheitswesen nicht wenige, die wünschten, die Psychotherapie wäre nach dem Medizinischen Modell geschaffen worden: Die Natur der Störung bestimmt die Auswahl der psychotherapeutischen Maßnahmen. Erst diagnostizieren wir, dann intervenieren wir.

Das ist das Programm, das auch das Jenaer-Paradies- Projekt umsetzt. Sind die diagnostischen Kriterien der Angststörung erfüllt, setzen therapeutische Maßnahmen ein, die die Störung beheben.

Diagnostik

Der selbsternannte Gold-Standard der Diagnosekunst, das DSM-5, erzielt im eigenen Feldversuch bei Standarddiagnosen wie der Majoren Depressiven Episode eine Übereinstimmungsrate der Rater von 32 %, bei der Generalisierten Angststörung sind es 20 %. Der DSM-Kritiker Allen Frances spottet: „Das DSM ist durch den Reliabilitäts-Test gefallen.“

Darauf angesprochen stellen die Verantwortlichen das als Fortschritt dar: Das DSM-Klassifikationssystem sei inzwischen so sehr ausdifferenziert, dass es zwangsläufig zu mehr Fehlurteilen der Diagnostiker komme.

Ein Maximum an Angst mit Herzrasen, Schwitzen, Tunnelsehen etc. wird auch im Rahmen anderer Angststörungen erreicht. Was die Panikattacken von anderen Angststörungen unterscheidet, ist das anlasslose des Anfalls, ihre Situationsunabhängigkeit. Doch wie lässt sich sicherstellen, dass etwas nicht zu finden ist? Poppers Falsifikationismus: Sind wir wirklich sicher, dass alle Schwäne nicht-schwarz sind?

Die Panikstörung ist eine der jüngeren Diagnosen des DSM, aufgenommen erst 1980 mit der dritten Revision. Sie hat eine steile Karriere hinter sich. Inzwischen gehört sie zu den am häufigsten diagnostizierten Störungen. Die ersten Panik-Studien werden in der Zeit von 1983 bis 1987 allein von der Upjohn Company finanziert, durchgeführt am Mass General Hospital in Boston. Upjohn ist Hersteller des Angstlösers Xanax (deutscher Name: Tafil). Jetzt haben Panikattacken auch das Interesse der Jenaer Forscher geweckt. Warum eigentlich?

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