Anne Harrington- Verschreiben Psychiater vor allem Tabletten?

 
 
 

Thorsten Padberg: Sehr geehrte Frau Professor Harrington, ich werde oft von Patienten gefragt, was der Unterschied zwischen einer Behandlung bei mir als Psychologischem Psychotherapeuten und einer Behandlung beim Psychiater ist. Die Antwort, die ich dann gebe, ist, dass es bei mir z. B. um Verhaltensexperimente und das therapeutische Gespräch geht, während Psychiater meist Medikamente verschreiben. Aus Ihrer Sicht als Historikerin: Ist das eine faire Einschätzung?

Anne Harrington: Ich glaube, das kann man so sagen. Ich denke, dass viele der Psychiater, die noch in den 1960er- und 1970er-Jahren ausgebildet worden waren, die Psychothe- rapie als den wichtigsten Behandlungsansatz ansahen. Es gab damals schon Medikamente, aber das waren Zusatzan- gebote. Sie sollten die Patienten zwischen den psychothe- rapeutischen Sitzungen unterstützen. Und die Psychiater argumentierten, dass nur medizinisch ausgebildete Kliniker Psychotherapie durchführen dürfen sollten. Psychotherapie galt als medizinische Intervention, die eine ganz besondere Ausbildung erforderte. Und die spannende Frage ist: Warum ist das heute nicht mehr so?

 

Zugleich gab es Psychologen, Sozialarbeiter und Berater, die „nach der Macht griffen“. Sie verlangten für ihre Dienste weniger Geld. In dieser Situation mussten die Psychiater jetzt unter Beweis stellen, dass sie echte Mediziner sind. Und wie konnten sie das tun? Wie sich herausstellte, taten sie dies, indem sie an- fingen, Medikamente zu verschreiben.

Wie konnte es passieren, dass eine Disziplin, die einmal stark davon ausgegangen ist, dass die Psychotherapie den Kern ihres Arbeitens ausmacht, davon nicht länger überzeugt ist und die Durchführung von Psychotherapie anderen Disziplinen überlässt? Das hat verschiedene Gründe. Einer davon ist der, über den ich im Buch geschrieben habe: die professionelle Krise der Psychiatrie. Die Psychiatrie wurde nicht etwa biologisch, weil es neue wissenschaftliche Erkenntnisse gegeben hätte, die diese Wende zur Biologie gerechtfertigt hätten, sondern weil ihre übermäßig aktivistische und sozialwissenschaftliche Sicht zu einer Krise geführt hatte. Die Psychiatrie verlor ihre Autorität. Den Leuten war nicht länger klar, warum sie Psychiater für Therapien bezahlen sollten, die endlos erschienen und so gar nichts mit dem Rest der Medizin zu tun hatten. Zugleich gab es Psychologen, Sozialarbeiter und Berater, die „nach der Macht griffen“. Sie verlangten für ihre Dienste weniger Geld. In dieser Situation mussten die Psychiater jetzt unter Beweis stellen, dass sie echte Mediziner sind. Und wie konnten sie das tun? Wie sich herausstellte, taten sie dies, indem sie an- fingen, Medikamente zu verschreiben.

 
Anne Harrington

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