Ken Gergen — Warum sollte ich Therapeut*in werden?

Das Interview führte ich zusammen mit meinen Kollegen Eugene Epstein, Manfred Wiesner und Lothar Duda.

 
 
 

Professor Gergen, denken Sie, es ist möglich, Psychotherapie durchzuführen, wenn man dabei nicht zuerst an die mentalen Zustände der Menschen denkt? Kann man Veränderungen im Gespräch anstoßen, ohne davon auszugehen, dass hinter dem psychologischen Vokabular etwas Psychisches steht?

Kenneth Gergen: Ich versuche, von dem Gedanken wegzukommen, dass es immer darum gehen muss, was hinter dem steht, was wir reden – dass dahinter etwas Psychisches ist, das es „produziert“. Ich wollte eine andere Perspektive einnehmen, die sich stattdessen mit dem beschäftigt, was im Gespräch passiert: Wie „produzieren“ wir im Gespräch einander? Dabei erkunden wir keine verdeckten psychologischen Tiefen, auch wenn das oft so verstanden wird. Stattdessen erschaffen wir gemeinsam etwas.

Das klingt nach dem, was der Psychotherapeut Harry Goolishian einmal sinngemäß gesagt hat: „Höre auf das, was die Menschen sagen, nicht auf das, was du denkst, was hinter den Worten stecken könnte.“

Kenneth Gergen: Sobald man die Sprache als Linse für das benutzt, was in einer Therapie passiert, dann wird sofort deutlich, dass wir es sind, die Sprache gebrauchen, dass das Sprechen ein Tun ist. Und man braucht keine zweite Sprache, die angeblich hinter dem Gesprochenen steht, die das Eigentliche ist, um das es gehen soll.

Dabei sollte man eines beachten: In die Praxis eines Psychotherapeuten kommen die unterschiedlichsten Menschen, mit den unterschiedlichsten Vorstellungen über die Welt. Und viele von ihnen sind auf Vorstellungen vom Unbewussten oder Trieben fixiert. Diese Vorstellungen sind noch sehr gängig, genauso wie spirituelle Vorstellungen. Wenn man sich auf den Prozess zwischen den Menschen konzentriert, ist es äußerst wichtig, diese mitgebrachte Sprache zu würdigen, die vielfältigen Glaubenssysteme und Werte. Und nicht immer nach etwas zu suchen, das dahintersteht, so dass es dann zum Beispiel immer ein Bindungsproblem ist. Die einzige Frage lautet dann: „Wie hast du das Bindungsproblem gelöst, das hinter dem steht, was berichtet wurde?“ Davon würde ich gerne wegkommen. Dabei kann man immer noch solche Begriffe wie „unbewusste Motive“ benutzen. Wir könnten die Begriffe, so wie sie geäußert werden, nutzen, um davon ausgehend voranzukommen. Dabei sollte man aber nicht das Thema wechseln, in dem Sinne, dass man mit einem bestimmten Problem zur Therapie geht und dann plötzlich nur noch über ein Problem redet, das man mit seinen Eltern hatte, als man vier Jahre alt war. In den USA ist das Thema „Healing“ gerade ganz groß: „Die Wunden der Sklaverei heilen“. Warum sollte man ausgerechnet da ansetzen? Warum sollten wir den Menschen sagen: „Du hast die Sklaverei noch nicht überwunden“?

Wie sollten wir dann Ihrer Meinung nach Psychotherapeut*innen ausbilden?

Kenneth Gergen Was mir überhaupt nicht gefällt, ist eine Ausbildung, die sich an einem festen Regelwerk orientiert, nach dem man in der ersten Stunde X und in der zweiten Stunde Y macht. Das ist zu beschränkend. Es geht für Therapeut*innen darum, gut im Kontakt zu bleiben. Deshalb sind die für mich entscheidenden Teile der Ausbildung, wenn man Ausbildungskandidat*innen bei der Arbeit beobachtet und das dann gemeinsam durchspricht. Aber nicht mit der Idee, dass es den einen richtigen Weg gibt, sondern mit einem Augenmerk darauf, was alles möglich gewesen wäre. „Du hättest jetzt das oder das sagen können“, „Schau, wie du dich da gerade vorbeugst“ – all die Dinge, auf die man aus verschiedenen Perspektiven potenziell achten könnte. So dass die Auszubildenden sehen: „Okay, ich hätte hier das machen können, oder hier das. Das wird mir beim nächsten Mal dabei helfen, flexibler oder sensibler zu reagieren.“ Um die ganze Vielfalt der Möglichkeiten zur Hand zu haben.

Therapeut*innen, die gerade erst mit der Arbeit beginnen, fühlen sich oft unsicher, sie wollen genau wissen, was sie tun müssen und was daraufhin passiert. Sie wollen Komplexität eher reduzieren. Sie, Professor Gergen, suchen hingegen eher nach Wegen mit Komplexität umzugehen. Wie könnte man dies angehenden Therapeut*innen schmackhaft machen?

Kenneth Gergen: Eine aktuelle Entwicklung aus dem medizinischen Bereich ist, dass man schon in der Ausbildung damit beginnt, mit Patientengruppen zu sprechen. Wie geht es den Patient*innen mit den medizinischen Routinen? Die Patient*innen helfen den Auszubildenden, indem sie verständlich machen, wie das Leben für sie ist. Wenn man mit älteren Menschen arbeiten will, dann lädt man Gruppen von Älteren ein, die davon erzählen, wie das so ist, wenn man alt wird und das eigene Leben für die Gesellschaft nicht mehr viel wert zu sein scheint. Wie ist das, wenn man auf seine Krankheit reduziert wird und nicht als ganzer Mensch gesehen wird? Diese Perspektivübernahme sollte Teil der Ausbildung werden. […]

 

Kenneth Gergen. Foto (c) Tom Levold