Nachwort zu Ethan Watters "Crazy Like Us"

 
 
 

Crazy like us – Ethan Watters Berichte über psychische Krankheiten in fremden Kulturen zeigen auf, wie verrückt wir selbst geworden sind

Die Kassenärztliche Vereinigung einer großen deutschen Stadt lädt zum Informationstag. Die verschiedenen Arztgruppen stellen sich vor und zeigen, was sie können. Blutdruckmessen etwa, Hautkrebsscreening gratis, was in aller Schnelle eben so möglich ist. Auch die Psychotherapeuten haben einen Stand aufgebaut. Sie verteilen Informationsmaterialien und geben Kostproben ihrer Arbeit. Stündlich gibt es Entspannungsgruppen und die Gelegenheit zu „psychologischer Kurzberatung“: Zehn Minuten mit einer Psychotherapeutin ganz für sich allein. Die ausführende Kollegin ist schon älter und erfahren. Ihre Fragen sind routiniert, ihr Kopfnicken erfolgt habituell und lädt zum Sprechen ein. Und es funktioniert. Die Men- schen, die zu ihr kommen, beginnen zu reden. Über sich und das, was sie bedrückt. Und der Kopf der Therapeutin bewegt sich dazu, als würde er im Rhythmus einer schon oft gehörten Melodie mitwippen.

Frau K. zum Beispiel ist 43 Jahre alt und hat offensichtlich längere Zeit nicht mehr in Ruhe in einen Spiegel geschaut. Es ist nicht so, dass sie nicht ordentlich aussieht. Es ist mehr das Funktionale an ihrer Kleidung, in ihrem Auftreten. Zu funktional. Zu grau. Grau fühle sie sich auch, sagt sie. Sie hat einen Sohn, der viel Arbeit macht, und einen Mann, der viel auf Arbeit ist. Ihrem Leben fehlt es an Abwechslung, an Freude, an Farbe. Niedergeschlagen sei sie häufig in letzter Zeit und sie wisse auch nicht, wie sie etwas daran ändern könne. Sie schlafe schlecht und habe keine Lust auf die Hausarbeit. An dieser Stelle schluckt sie und verstummt.

 

Der Kopf der Therapeutin hat aufgehört, zu wippen. In der Stille klingt Frau K.s Geschichte nach. Im Hin und Her der Konversation ist es jetzt an der Therapeutin, fortzufahren. Und als sie dann spricht, sagt sie: „Das, was Sie da erzählen, klingt mir aber nach einer richtigen klinischen Depression.“

Frau K. beginnt zu weinen. Ja, so etwas habe sie sich schon gedacht. Gebe es denn Hilfe? Die Therapeutin lächelt. Natürlich gebe es Hilfe, gut erprobte, wissenschaftlich gesicherte Methoden der Verhaltenstherapie zum Beispiel. Und ergänzend dazu Medikamente. Die zehn Minuten sind vorbei. Ob sie schon über professionelle Hilfe nachgedacht habe? Frau K. lässt sich noch eine Liste mit Telefonnummern geben. Als sie sich verabschiedet, lächelt auch sie. Sie bedankt sich. Endlich habe sie einmal jemand richtig verstanden.

Geschichten über uns aus der Ferne

In der eingangs geschilderten (authentischen) Szene, die sich in Deutschland in ähnlicher Form in ärztlichen und psychologischen Praxen jedes Jahr tausendfach abspielt, tauscht Frau K. innerhalb von zehn Minuten ihre gesamten alten Probleme gegen ein einzelnes neues. Frau K. klagt beim Informationstag der Kassenärztlichen Vereinigung zunächst über ihr Leben, über ihre Beziehungen und ihre Gefühle. Sie geht mit einem faulen Sohn, einem abwesenden Mann und der Trauer über ihr Leben in die Kurzberatung. In kürzester Zeit tauscht sie all diese Probleme gegen ein einziges, völlig andersartiges: Depression. Sie ist jetzt psychisch krank. [...]

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