Thorsten Padberg - Die soziale Seite der Depression

 
 
 

Bei Barbara Tambour von Publik-Forum habe ich für eine soziale Sicht auf Depression geworben

Menschen mit Depressionen werden beim Arzt zu selten nach den Umständen gefragt, unter denen sie leiden, kritisiert der Psychotherapeut Thorsten Padberg. Statt die Menschen zu befähigen, ihr Leben zu verändern, würden sie mit Medikamenten abgespeist.

Werden zu viele Antidepressiva verordnet oder erhalten zu viele Menschen die Diagnose Depression?

Padberg: Um das zu verstehen, muss man fragen: Was ist eigentlich eine Depression? Und die bestmögliche Antwort lautet: Niemand weiß es. 1980 wurde festgeschrieben, was eine Depression kennzeichnet. Das sind neun Symptome: Schlaflosigkeit, schlechte Stimmung, Selbstzweifel, vielleicht aber auch zu viel schlafen, Appetitlosigkeit und andere – wenn fünf davon gegeben sind und länger als 14 Tage anhalten, spricht man von einer Depression. Diese sogenannten Symptome gehören eigentlich zum Leben dazu. Vor 40 oder 50 Jahren hätte man Menschen mit diesen Symptomen nicht die Diagnose Depression gegeben. Das soll nicht heißen, dass diese Menschen nicht leiden. Wer vier oder fünf dieser Symptome hat, leidet und ruft nach Hilfe. Aber ist das eine Krankheit?

Sie sind in Ihrer psychotherapeutischen Arbeit zur Auffassung gekommen, dass das, was als Depression bezeichnet wird, in vielen Fällen »soziales Leid« ist. Was meinen Sie damit?

Padberg: Die meisten Depressionsdiagnosen tauchen bei Menschen auf, die unter sozialen Umständen leiden, wie prekären Arbeitsverhältnissen, einem schlechten familiären Umfeld, generell wenn Ressourcen knapp sind. Das würde ich soziales Leid nennen. Als zu Beginn der Pandemie die Depressionszahlen hochschnellten, waren es vor allem diejenigen, die geringe Einkommen und wenig soziale Unterstützung hatten, die depressiv wurden.

Häufig wird Depression als ein »Schnupfen des Gehirns« bezeichnet. Warum mögen Sie diesen Vergleich nicht?

Padberg: Diese griffige Formulierung wurde in Japan von einer Werbeagentur entwickelt – um damit für Antidepressiva zu werben. Am häufigsten wird Depression mit Diabetes verglichen. Liegt bei Diabetes ein Mangel in der Insulinproduktion vor, solle es sich bei der Depression um einen Mangel an Botenstoffen im Gehirn handeln. Allerdings ist ein derartiges Defizit bisher nicht nachgewiesen worden. Es sind keine biologischen Ursachen für Depressionen bekannt, auch wenn das häufig anders behauptet wird.

Sie haben hierzu ein Buch geschrieben, der Titel lautet »Die Depressionsfalle«. Was ist die Falle?

Padberg: Als 1980 die Diagnosekriterien für Depression neu gefasst wurden, wurde ein Wort gestrichen: Reaktion. Damit wurde quasi ausgeschlossen, dass bei der Diagnose geschaut wird, was dem Leid vorausgegangen ist. Ist jemand gestorben? Hat die Person ihren Job verloren? Hat sie Probleme mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin? Bei der Depression ist quasi per Definition ausgeschlossen worden, diese soziale Seite zu thematisieren. Das ist die Falle. Indem ich bei der Diagnose Depression den Fokus auf den Körper richte und das Leben des Menschen, seine Geschichte, seine Beziehungen vernachlässige, verliere ich die Geschichte aus dem Blick, die der Mensch über sich erzählen könnte, wenn man ihn denn ließe und danach fragen würde. […]

 

Foto: mathias the dread / Photocase