Neuro<>Psychotherapie: Endstation Hirn

 
 
 

Eines Tages wachte ich auf, und wir sprachen nicht länger dieselbe Sprache. Seither habe ich nichts mehr von Dir gehört. Hishaam Siddiqi

Wie jede Beziehungsgeschichte ist auch diejenige zwischen Neurowissenschaften und Psychotherapie von Hoffen und Bangen, von Optimismus und Ernüchterung gekennzeichnet. In diesem Beitrag werden einige der Hoffnungen betrachtet, die sich diese beiden Disziplinen gemacht haben, und wie es kam, dass diese Hoffnungen inzwischen als weitgehend zerstört anzusehen sind.

Neurowissenschaft und Psychiatrie - Bilder vom Leiden

Im Frühjahr 1968 hört David Rosenhan auf sich zu waschen. Er rasiert sich auch nicht mehr. Nach einigen Tagen stellt er sich in der Psychiatrie vor. Er erzählt dort, dass er eine Stimme hört. Sie sagt, „Hohl - Leer - Rumms“. Er wird in die Anstalt aufgenommen, als schizophren diagnostiziert und dort über zwei Monate behandelt. Was niemand in der psychiatrischen Anstalt weiß: David Rosenhan ist Psychologe, und er hört keine Stimmen. Er führt ein Experiment durch. Er benimmt sich für den Rest seines Aufenthaltes in der Anstalt völlig unauffällig. Doch niemandem vom Personal fällt auf, dass Rosenhan ein Pseudopatient ist, jemand, der seine Symptome nur ein einziges Mal, bei der Aufnahme, vorgespielt hat. Lediglich einige der Mitpatienten werden misstrauisch. Irgendetwas stimmt nicht mit dem Neuen.

Der „Neue“ wird später weltberühmt und stürzt die Psychiatrie in eine schwere Krise. „Wir wissen jetzt, dass wir psychische Gesundheit und Krankheit nicht auseinanderhalten können“, resümiert Rosenhan seine Zeit in der Psychiatrie und das Rosenhan-Experiment. Sieben weitere Personen, Freunde und Studenten Rosenhans, hatten zeitgleich dasselbe getan - zum Teil gleich in mehreren Kliniken hintereinander - und fast identische Erfahrungen gemacht. Was waren das für Ärzte, die den Unterschied zwischen Gesundheit und Krankheit nicht erkannten? Und die Antwort schien zu lauten: Psychiater. Wissenschaftler waren das ganz offensichtlich nicht.

 

In vielen anderen medizinischen Fachrichtungen kann man für die Diagnostik bspw. Labortests durchführen oder in ein Mikroskop schauen. Die Entdeckung von Viren und Bakterien hatte der Medizin einen Quantensprung bei der medikamentösen Behandlung ermöglicht. Diese Möglichkeit hatte die Psychiatrie lange Zeit nicht. Dann verkündete der amerikanische Chemiker Paul Christian Lauterbur eine wissenschaftliche Sensation (vgl. Rinck, 2014). Eine Digitalkamera für das Gehirn! Sie ist heutzutage unter dem Namen Magnetresonanztomographie bekannt, kurz MRT. Ein MRT macht die Struktur und die Funktion von Körperorganen sichtbar und lässt sich auch für den Kopf durchführen. Es war genau das Gerät, auf das die Psychiater gewartet hatten. Weil ein MRT zeigt, wie es im Kopf der Menschen aussieht, gehen sie davon aus, sie wüssten dadurch auch, was im Kopf dieser Menschen vorgeht. Das MRT verspricht ihnen einen objektiven Blick auf ihren Gegenstandsbereich, die seelischen Störungen. Denn anders als Gedanken, Gefühle und ihre Störungen kann man das Gehirn sehen, anfassen, wiegen und vermessen. Das macht die Neurowissenschaften zu einem attraktiven Partner, wenn es darum geht, die häufig schwer zu definierenden Instanzen des Seelenlebens zu konkretisieren; sie dingfest zu machen.

Die Psychiatrie ist damit voll und ganz in der Medizin angekommen. Das sog. Medizinische Modell definiert Krankheit als Schädigung von Gewebe und funktionelle Störungen (vgl. Szasz, 2010). Dadurch dass man psychische Probleme ebenfalls als Fehlfunktionen oder Schäden im Hirngewebe fasst, fallen auch diese jetzt unter den medizinischen Krankheitsbegriff. Die Unsicherheit bzgl. der Echtheit seelischer Störungen hat ein Ende, man kann dem Gehirn bei der Arbeit über die Schulter schauen. Und eben auch dann, wenn es eine Arbeitsstörung hat.

Und wenn seelische Krankheiten materiell auf diese Weise fassbar sind, dann muss jetzt eine andere Disziplin, die das Seelenleben über Jahrzehnte hinweg noch viel weniger körperlich als die Psychiatrie konzipiert hatte, um ihren Wissenschaftsanspruch fürchten. Nämlich die von Psychologen durchgeführte Psychotherapie. […]

erschienen in: Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis, 2/2019.