Denn sie wissen nicht, was wir tun –
Die Diskussion über die Pflicht zur standardisierten Diagnostik droht zum Selbstgespräch zu werden

 
 
 

Aktuelle Veröffentlichungen zur standardisierten Diagnostik in der Psychotherapie geben Anlass dazu, Fragen nach der Wissenschaftlichkeit, Ethik und Nützlichkeit von Psychotherapie zu stellen. Um diese Fragen zu beantworten, kommen u. a. zu Wort: prominente Psychotherapieforscher, der Begründer der Kognitiven Therapie Aaron T. Beck und der Anwalt eines Massenmörders.

 

Für Antrag und Bewilligung einer Psychotherapie sollen standardisierte Testverfahren in Zukunft Voraussetzung sein, so wird es im Gemeinsamen Bundesausschuss der Ärzte und Psychotherapeuten in Deutschland (G-BA) diskutiert. Dass ein großer Teil der Praktiker seine Diagnosen nach sogenannten „unstrukturierten Inter- views“ stellt, das heißt ohne einen Leitfaden, in dem die Fragen zum Leiden der Klienten vorgegeben wären, soll damit Vergangenheit sein. Auch Veränderungen der Symptomatik müssten dann durch Fragebögen erfasst werden.

Jetzt hat die am Modell einer schulenübergreifenden Allgemeinen Psychotherapie orientierte Psychotherapieforschung schon bei der Verbreitung der von ihr als überlegen angesehenen therapeutischen Metho­dik massive Schwierigkeiten erfahren (vgl. Padberg, 2011; 2012): Viele Praktiker lösen sich nicht von den in ihrer Ausbildung gelernten Herangehensweisen. Sie bleiben während ihrer Berufstätigkeit einer oder mehreren psychotherapeutischen Schulen verbunden, statt ihre Praxis an den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen auszurichten. Wenn jetzt die Pflicht zur standardisierten Diagnostik kommen soll, fürchten die Initiatoren mit gutem Grund: Widerstand.

Fragen, die niemand gestellt hat

Es gibt deshalb schon im Vorfeld Bemühungen, eine Diskussion zu initiieren, die die Sorgen der Praktiker eindämmen soll. „Die Seele ist doch nicht messbar, oder?“, fragte etwa der Titel einer Informationsver- anstaltung am 3. Juli 2012 zur standardisierten Diagnostik des Ausschusses für Wissenschaft, Forschung und Qualitätssicherung der Psychotherapeutenkammer Berlin. Die Fragen der Praktiker sollten damit aufgegriffen werden. Nein, die Seele sei natürlich nicht messbar, erklärte dort Prof. Thomas Fydrich von der Humboldt- Universität Berlin, ihre Manifestationen, wie Symptome und Persönlichkeitseigenschaften etc., aber doch. Die ebenfalls vortragende Psychologische Psychotherapeutin Sabine Schäfer wollte beruhigen. Testdiagnostik sei eine gute Sache, erklärte sie den Zuhörern.

 

 

Nach der Anwendung von Tests könnten sie sicher sein, nichts übersehen zu haben. Und eine schöne Erfolgskontrolle sei es auch, das kleine Testpaket, das sie anschließend vorstellte – und daher den Aufwand wert. Auf diese Weise vorbereitet ist das Ergebnis der Diskussion schon durch die Schilderung der Ausgangslage vorgezeichnet. Folgt man den genannten Beiträgen, stehen hier gegeneinander: der Glaube an die Seele gegen das Wissen um Symptome und ihre Behandlung, die Bequemlichkeit gegen die Genauigkeit, die Bedürfnisse der Praktiker gegen die Erkenntnisse der Wissenschaft. Im schlimmsten Fall steht die Selbstbezogenheit des Praktikers dem Wohlergehen des Patienten im Weg (vgl. Hoyer & Knappe, 2012, S. 3).

Es sei eben „nicht einfach“, gegen den „evidenzbasierten Zeitgeist“ zu argumentieren, stellen Köllner und Schauenburg (2012, S. 89) abschließend fest, weshalb eine Gegenrede „Mut“ erfordere. Dieser Einschätzung sekundiert dann auch die zur mutigen Kritik geladene Praktikerin: Ihr Artikel stelle „keinen wissenschaftlichen Anspruch“, sondern orientiere sich an der klinischen Erfahrung (Meiser-Storck, 2012, S. 6). Offenbar sind auch manche Praktiker inzwischen der Meinung, gegen standardisierte Diagnostik ließe sich nur auf nicht-wissenschaftlicher Basis argumentieren.

Jetzt ist es so: In einer Diskussion steht man besonders gut da, wenn man ihr einziger Teilnehmer ist, und am einfachsten argumentieren lässt sich gegen eine völlig überzeichnete Position. Am effektivsten stellt man das sicher, indem man beide Seiten gleich selbst übernimmt: Praxis versus Forschung, das bedeutet Seele gegen Messung, Willkür gegen Genauigkeit. Aber sind wirklich das die Bedenken, die Praktiker von einer standardisierten Diagnostik abhalten?

 

Bildschirmfoto 2018-08-26 um 11.24.06.png