Eva Illouz - Sollte ich meinen Beruf an den Nagel hängen?

 

Thorsten Padberg:

Eva Illouz, die Tageszeitung „Die Welt“ hat in einem Artikel über Sie geschrieben, Ihr Ziel sei es, die Gesellschaft aus dem Würgegriff der Psychoanalyse zu befreien. Ich bin selber Psychotherapeut. Was meinen Sie: Sollte ich meinen Beruf an den Nagel hängen?

Eva Illouz:

Ich will nicht, dass Sie persönlich Ihren Beruf aufgeben. Ich möchte, dass Sie und Ihr Berufsstand sich selbst befragen, wie Sie nicht nur einzelne Personen, sondern die Gesellschaft als Ganzes verändern. Die Psychologie ist zu der Überzeugung gekommen, dass sie eine medizinische Disziplin ist. Wobei die Medizin einzelne Körper heilt und die Psychologie einzelne Seelen. Dabei macht sie sich oftmals nicht klar, dass sie durch diese individualisierte Form des Therapierens am Ende zu sozialer Apathie beiträgt.

Thorsten Padberg:

Glauben Sie denn, dass es so etwas wie eine gesell- schaftlich sensible Therapie, einen gesellschaftlich sensiblen Therapeuten geben kann?

Eva Illouz:

Ich glaube nicht, dass es ausreicht, gesellschaftlich sensibel zu sein. Es geht nicht darum, dass ein Psychotherapeut „gute“ politische Absichten verfolgt. Es geht eher darum, dass der psychologische Berufsstand sehr intensiv darüber nachdenken sollte, inwieweit die Klagen, Schwierigkeiten und Leiden, die einen Patienten in die Therapie bringen, nicht nur ihm oder ihr zu eigen sind, sondern vielen gemeinsam sind. Dass sie etwas sind, das durch institutionelle Kräfte verursacht wird.

Ein Beispiel: Intimität zwischen verheirateten Partner ist nicht mehr so einfach. Das liegt nicht nur daran, dass die Menschen verkorkste Kindheiten hatten, sondern auch daran, dass die Lebensbedingungen der Moderne die Herstellung und Aufrecht- erhaltung von Kontakt erschweren. Deswegen plädiere ich dafür, dass man bei der Suche nach Ursachen für persönliches Unglück immer die gesellschaftlichen Strukturen im Blick behalten sollte, die dafür mitverantwortlich sind. Ein zweites Beispiel: Ich glaube, dass Frauen und Männer es nicht mit der gleichen Welt zu tun haben. Ich glaube, dass ein soziales und soziologisches Verständnis für die Rolle der Frau eine notwendig Voraussetzung ist, um zu verstehen, womit Frauen es zu tun haben, wenn sie auf die Welt kommen und in die Welt hinausgehen.

Außerdem glaube ich, dass eine sozial verant- wortungsbewusste Therapie positive Gefühle negativen Gefühlen nicht immer vorzieht. Sie will statt- dessen verstehen, auf welche Weise negative Gefühle wie Ärger sinnvoll sein können. Dass man sie in den Dienst eines größeren Ziels stellen kann. Es geht also in einer sozial-verantwortungsbewussten Therapie nicht notwendigerweise darum, positive Gefühle hervorzurufen oder nach persnlichem Wohlbefinden zu streben. Es geht darum, die Energie des Einzelnen in Projekte umzuleiten, die dem Wohl der Gesellschaft dienen. Das kann durch den durch Ärger angetriebenen Kampf für Gerechtigkeit ge- schehen oder dadurch, dass man sich aus Mitgefühl heraus einer Sache widmet.

 

Thorsten Padberg:

Das bedeutet, dass diejenigen, die in eine solche Art von Therapie gehen, erwarten können, dass sie wieder eine produktive Rolle in der Gesellschaft übernehmen können. Worin sie dann einen Weg finden, mit ihrem Unglück umzugehen, statt ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Würde das nach einem Jahrhundert, in dem die Gesellschaft die Lehren Freuds internalisiert hat, überhaupt funktionieren?

Eva Illouz:

Ich glaube, dass z.B. Coaching heute schon ein Weg ist, Menschen produktiv zu machen, ihnen zu helfen, das zu bekommen, was sie wollen. Ein Hilfe, die eigenen Ziele zu erreichen, ohne ein Narrativ darum herum zu konstruieren. Es ist ja nicht so, als gäbe es das nicht schon. Und es ist sehr erfolgreich.

Thorsten Padberg:

Dieses Vorgehen wäre Ihrer Meinung nach also sozial verantwortlicher?

Eva Illouz:

Nein, ich habe dazu keine Meinung. Ich bin keine Therapeutin. Ich glaube, das sollten die Therapeuten sich selber fragen und eigene Antworten darauf finden. Ich will damit nicht sagen, dass die Klärung der eigenen Geschichte oder der Rolle, die die Kind- heit für die Art und Weise, wie wir die Welt wahr- nehmen, spielt, nicht berechtigt ist. Ich finde, das ist berechtigt. Ich glaube, wir können dieses Erklärungsmuster beibehalten. Es geht mir nicht darum, die Idee zu verabschieden, dass Menschen eine sehr individuelle Geschichte haben und diese auf ihre besondere Weise erzählen. Ich will nur sagen, dass diese hochgradig individualisierte Sicht auf das Selbst wie so eine russische Puppe ist ...

Thorsten Padberg:

... eine Matrjoschka ...

Eva Illouz:

Genau. Diese Sicht ist nur eine Puppe, die in vielen anderen, größeren Puppen steckt. Man öffnet eine Puppe und entdeckt darin weitere Puppen. Und das würde ich gerne erhalten.

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erschienen in: Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis 3/2019