Joanna Moncrieff- Sollte man Antidepressiva einnehmen?

 
 
 

»Die wenigsten Menschen glauben, ihre Depression sei ein rein medizinisches Problem«

Wenn ich also in ihre Praxis kommen und sagen würde: »Ich bin sehr depressiv«, was würden Sie mit mir machen?
Als Allererstes würde ich Sie fragen: »Warum?« Die wenigsten Menschen glauben, ihre Depression sei ein rein medizinisches Problem. Meiner Meinung nach sind unsere Emotionen eine Reaktion auf unsere Lebens- umstände. Das sind sie per Definition: Sie sind da, um unsere Umstände zu bewerten. Wenn jemand sagt, dass er oder sie depressiv sei, ist das Erste, was man tun muss, herauszufinden, was sie depressiv gemacht hat. Was an ihrem Leben ist es, das sie depressiv werden ließ? Und was könnten sie versuchen, um diese Dinge zu verändern?

[…]Manchmal wissen die Menschen nicht, was das ist, und müssen das mit jemandem durchsprechen. Und oftmals lässt sich das nicht einfach verändern. Denn wenn es einfach wäre, dann wären sie nicht bei mir. Also ist es mein Ansatz, dass ich schaue, welche Art von Hilfe dazu beiträgt, die Situation zu verändern. Manchmal kann das Paarberatung sein, manchmal Berufsberatung. Bei jüngeren Menschen kann es eine generelle Unterstüt- zung sein, eine Beratung, in der sie darüber nachden- ken können, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen. Manchmal bedeutet das, an sich selbst zu arbeiten, daran, wie man mit Herausforderungen umgeht. Das wäre ein typischer Fall für Psychotherapie.

Die meisten Menschen, mit denen ich spreche, nehmen bereits Antidepressiva, weil sie vorher bei ihrer Hausärz- tin bzw. ihrem Hausarzt waren. Es sind meist die Haus- ärztinnen und -ärzte, die die Medikation ansetzen. Ich werde dann angesprochen, wenn das Antidepressivum nicht wirkt.

Sie haben ja eine sehr kritische Sicht auf Antidepressiva. Was sagen Sie den Menschen, die Sie nach diesen Medikamenten fragen?
Um ehrlich zu sein, antworte ich so, dass es passend ist – nicht zu dem, was die Person hören will, sondern zu dem, was in der gegebenen Situation geboten ist. Aber zu jemanden, der ernsthaft darüber nachdenkt, Antidepressiva einzunehmen, würde ich sagen: »Aus meiner Sicht gibt es nur einen sehr kleinen Unterschied zwischen einem Antidepressivum und einem Placebo. Aber es sind aktive Medikamente, und sie werden wahrscheinlich Ihre Gefühle dämpfen.« Und für einige Menschen ist das etwas, das sie wollen und das für sie hilfreich ist. Ich habe lange in der Suchttherapie ge- arbeitet. Und Menschen mit Süchten würden fast alles tun, um keine Gefühle zu spüren. Es bleibt natürlich die Frage, ob das besonders gesund ist. Und mir ist dabei sehr mulmig zumute. Aber manche wollen das.

Der Psychotherapeut Gary Greenberg, der selbst zu seinem Drogenkonsum steht, sagt, Antidepressiva seien so populär, weil sie die Menschen zumindest ein kleines bisschen »high« machen.

Ich glaube nicht, dass sie Menschen »high« machen. Ich glaube, es ist nicht besonders angenehm, sie ein- zunehmen. Die meisten Freiwilligen in Studien merken keinen großen Unterschied, bei höheren Dosen fühlen sich die Menschen sogar unbehaglich damit. Die älteren Antidepressiva waren zwar nicht so stark wie Benzo- diazepine, aber doch recht sedierend, und die Leute mögen das. Es gibt ein oder zwei ältere Antidepressiva, die stimulierend wirken.

Ich erkläre den Leuten, was ich von Antidepressiva halte, aber auch, dass die meisten anderen Psychiate- rinnen und Psychiater sie in einer solchen Situation für hilfreich halten. Also sage ich: »Wenn es das ist, was Sie wollen, dann werde ich Ihnen dabei helfen, das Antidepressivum auszuwählen, das bei Ihnen die we- nigsten Nebenwirkungen auslöst. Und wenn Sie doch welche bekommen, werden wir ein anderes ausprobie- ren, sodass Sie die am wenigsten unangenehmen und schädigenden Erfahrungen mit Antidepressiva machen können, die möglich sind.«

Als ich Ihr »medikamentenzentriertes Modell« im Psychotherapeutenjournal vorgestellt habe, wurde ich von Psychiaterinnen und Psychiatern kritisiert, die mir vorhielten, das sei überhaupt nichts Neues. Sie sagten, sie seien sehr gut darin, Haupt- und Nebenwirkungen aufeinander abzustimmen.

Ich höre diese Kritik selbst auch oft – und das stimmt so überhaupt nicht. Sie behaupten, man attackiere einen Strohmann, besonders im Fall von Antidepressiva. Die meisten Allgemeinärztinnen und -ärzte, Psychiaterinnen und Psychiater besprechen ein Antidepressivum folgen- dermaßen mit ihren Patientinnen und Patienten: »Ich gebe Ihnen ein Antidepressivum. Das wird Ihnen helfen, sich ein wenig besser zu fühlen, und ihre Symptome ver- schwinden lassen. Und Sie sollten auch noch weitere Dinge tun, etwa sich in Psychotherapie begeben.« Sie sa- gen nie das, was wir im medikamentenzentrierten Ansatz erklären: »Wir haben keinerlei Ahnung, was die physiolo- gische Grundlage von Depression ist. Wir haben keinerlei Ahnung, welche Verbindung zwischen den Medikamen- ten und einer möglichen Ursache von Depressionen be- steht.« Das ist das, was ich den Menschen sage; so würde man Antidepressiva »medikamentenzentriert« erläutern. […]