Vom Scientist-Practitioner zum Practicing Scientist

Eine notwendige Neukonzeption des Verhältnisses der Forschung zur psychotherapeutischen Praxis

 
 
 

Forschung für die Praxis

Nach ihrem Erfolg gefragt, antwortet die akademische Psychologie mit dem Verweis auf die Sorgfalt, mit der sie ihre methodischen Probleme im Labor gelöst hat. Psychologische Psychotherapie, die von ihr designierte Nachfolgerin der Therapieschulen, verfolgt entsprechend einen Ansatz, der sich über die wissenschaftliche Absicherung bei der Auswahl seiner Methoden definiert (Grawe, 1998). Diese Aufgabe fällt u. a. der Psychotherapieforschung zu.

Psychotherapieforschung will also ihren Gegenstand, die psychotherapeutische Praxis, nicht nur beforschen, sondern auch selbst gestalten (Grawe, 2005). Geschah dies in der Phase der vergleichenden Wirkungsforschung (vgl. Meyer, 1990) noch mit dem Ziel, eine Empfehlung für ein bestimmtes Therapieverfahren auszusprechen, ist ein Ergebnis der aktuellen Psychotherapieprozessforschung, dass viel unmittelbarer in das therapeutische Geschehen eingegriffen werden soll. Psychotherapieforschung will Psychotherapie nicht länger nur beschreiben und bewerten, sondern auch entwickeln, um sie „in der Behandlungseffektivität deutlich über den heute erreichten Stand“ (Grawe, 1999b, S. 189) hinauszuführen. Aus der Position des objektiven Beobachters wechselt sie also in die Rolle des aktiven Gestalters.

Diese Entwicklung geht dabei weniger von über- raschenden neuen Daten aus. Der Anstoß ist eher eine Überlegung, die bei Grawe die folgende Form annimmt: „Wenn eine Therapiemethode nachweislich wirksam ist, können wir darauf schliessen, dass sie wirksame Ingredienzen enthält“ (Grawe, 1999b, S. 189).

Im Anschluss an diesen Gedanken wird der Beobachtungsfokus verschoben, weg von den Therapieverfahren, hin zu den in ihnen wirksamen Be- standteilen, den dahinterstehenden Wirkfaktoren. Korrespondierend kommt man zu anderen Aussagen über Psychotherapie. Vorher stark betonte Ergebnisse der Psychotherapieforschung werden nunmehr als unwesentlich angesehen, z. B. der Effektstärkenunterschied zwischen den Verfahren; er betrage letztlich doch nur 0,15 (mit Verweis auf Baskin, Tierney, Minami & Wampold, 2003).

Die Veränderung, die diese Neuausrichtung des Erkenntnisinteresses auslöst, ist also zunächst vor allem eine konzeptionelle: Eine Veränderung der Betrachtung von der Wirksamkeit hin zu den Wirkfaktoren, vom „was“ zum „wie“. Sie inspiriert im Anschluss auch eine andere Praxis der Psychotherapieforschung, beispielsweise werden darauf hin Studien designt, die explizit zur Extraktion von

„Wenn-dann“-Handlungsregeln gedacht sind, um so zu einer Feinsteuerung des Therapeutenverhaltens zu kommen (z. B. Dick, Grawe, Regli & Heim, 1999). Wissenschafts- und Orientierungsanspruch gehen Hand in Hand; der Praktiker soll entlang der von der Wissenschaft aufgestellten Regeln zum Scientist-Practitioner werden.

Sind die ersten Hinweise für Therapeuten noch recht allgemein verfasst („Bei Phobien verwende empirisch geprüfte Verfahren wie Expositionstherapie“), wird der Auflösungsgrad der Anweisungen im Laufe der Zeit erhöht. Sie werden zunehmend spezifischer. So formuliert Stucki (2008, S. 574) in seinen „Anforderungen und Handlungsanweisungen für Therapeuten“ beispielsweise: „Kombiniere ein intuitives mit einem rational-analytischen Vorgehen“. Noch konkreter erfolgen solche Handlungsanweisungen in den „Wenn-Sind die ersten Hinweise für Therapeuten noch recht allgemein verfasst („Bei Phobien verwende empirisch geprüfte Verfahren wie Expositionstherapie“), wird der Auflösungsgrad der Anweisungen im Laufe der Zeit erhöht. Sie werden zunehmend spezifischer. So formuliert Stucki (2008, S. 574) in seinen „Anforderungen und Handlungsanweisungen für Therapeuten“ beispielsweise: „Kombiniere ein intuitives mit einem rational-analytischen Vorgehen“.

 

 

Noch konkreter erfolgen solche Handlungs- anweisungen in den „Wenn-dann“-Konstruktionen: „Wenn Patienten wenig Engagement in der Thera- piebeziehung zeigen, dann sollten vom Therapeuten verstärkt die übrigen Ressourcen des Patienten hervorgehoben und unmittelbar erlebbar gemacht wer- den“ (Dick et al., 1999, S. 275). Entsprechend sollte den Therapeuten auch zunehmend klarer werden, wie sie sich dem Stand der Forschung entsprechend in der Therapie zu verhalten haben. Das ist, wie ich zeigen werde, jedoch weder aktuell zutreffend noch prinzipiell möglich.

Forschung über Praktiker

Vor dem Hintergrund einer wachsenden Vielzahl methodologisch gesicherter Gewissheiten zum Vorgehen in der Praxis sollte man annehmen, dass die Praktiker dankbar aufnehmen, was die Forscher für sie herausfinden. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Journale und Zeitschriften, in denen die Forscher über ihre Ergebnisse berichten, werden vorwiegend von anderen Forschern gelesen (vgl. Kelly, Goldberg, Fiske & Kilkowski, 1978). Diejenigen, die sie in die Praxis umsetzen sollen und könnten, halten sich von diesen Publikationen auffallend fern. Schon 1979 berichtet Cohen, wie selten Therapeuten Therapieforschungsliteratur lesen. In einer Untersuchung von Morrow-Bradley und Elliott (1986) benennen nur 4 % aller befragten Therapeuten Forschungsliteratur als wichtigste Informationsquelle für ihre Arbeit, dagegen 48 % persönliche Erfahrungen mit Klienten. Vor die Wahl zwischen acht verschiedenen Informationsquellen gestellt, favorisieren die Teilnehmer einer Interviewstudie von Cohen, Sargent und Sechrechst (1986) die Diskussion mit Kollegen weit vor der auf dem letzten Platz landenden Forschungsliteratur.

Es ist von daher kein Wunder, wenn auf Kongressen Kliniker gelegentlich als „information-proof“ beschimpft werden (zitiert nach Caspar, 1997, S. 110) und sie immer wieder zu einer Professionalisierung aufgefordert werden, um die „Misere der Psychotherapie“ (Pawelzik, 2009) zu beenden. Statt sich am wissenschaftlichen State of the Art zu orientieren, pflegten die Praktiker angeblich ein Dasein als „Künstler“ (ebd.) und produzierten dadurch – folgerichtig – therapeutische „Kunstfehler“ en masse, verhielten sich gar „unethisch“ (Rief, 2009).

Um im Folgenden zu zeigen, aus welchen sachlogischen Gründen Forscher und Praktiker die Arbeit des jeweils anderen mit Misstrauen betrachten, werde ich eine konzeptionelle Neuorientierung vorschlagen. Diese zieht keine wesentliche Veränderung der Blickrichtung auf die Datenlage zur Psychotherapie nach sich, sondern ein anderes Verhältnis der gewonnenen Ergebnisse zu ihrer Umsetzung in die Praxis. Das heißt, es soll keine Re-Analyse oder Kritik der vorhandenen Daten vorgenommen werden. Vielmehr soll untersucht werden, wie die in regelartigen Aussagen zusammengefasste Datenlage auf therapeutische Praxis Einfluss nehmen kann. Wie greifen therapeutische Handlungsregeln in konkrete therapeutische Praxis ein? Es wird deutlich werden: Nicht nur die wahrgenommene Relevanz der Forschung für die Praktiker ist gering, sondern auch die tatsächliche. Es gibt aber Möglichkeiten, diese unbefriedigende Situation zu ändern. [...]