Rezension: Michael Hengartner - Evidence-Biased Antidepressant Depscription

 
 
 

„Je weniger die Leute wissen, wie
Würste und Gesetze gemacht werden,
desto besser schlafen sie!“, heißt es.
Liest man das Buch „Evidence biased
Antidepressant Prescription“ von Mi
chael Hengartner, gilt Ähnliches wohl
auch für die Antidepressiva Forschung.
Manches hätte man vielleicht lieber
nicht so genau gewusst.
Blickt man mit Hengartner, der als
Depressionsforscher an der Zürcher
Hochschule für Angewandte Wissen
schaften mit exzellenten methodischen
Kenntnissen an das Thema herangeht,
auf die Fakten, dann bleibt nur ein
Schluss: Antidepressiva halten nicht
das, was sie versprechen. Dazu hat er
über 1.000 Quellen ausgewertet.
Einleitend schildert Hengartner den An
lass für seine Recherche Leistung: den
Wunsch, die „Wahrheit“ in den Daten
zu entdecken. Doch schon während sei
nes Studiums stellt sich Ernüchterung
ein. „Ich fing an, mich zu fragen, ob die
Autoren der bahnbrechenden psycho
logischen Studien, die uns in Semina
ren gelehrt wurden, nicht vollkommen
andere Ergebnisse erzielen würden,
wenn sie ihre Daten nicht bewusst auf genau diese spezifische Weise analy
siert hätten“, schreibt er. Hengartner
hat zu diesen Themen eigenständige
Forschungsarbeiten durchgeführt. Sein
Buch konzentriert sich jedoch auf eine
argumentative Einordnung der gesam
ten Studienlage, ihre Rezeption in Fach
kreisen und der Öffentlichkeit sowie auf
systemische Fehler im Forschungsbe
trieb. Dabei geht er über gängige Dar
stellungen insofern deutlich hinaus, als
er die Datenlage nicht einfach referiert,
sondern wie schon der Titel ankündigt,
die geläufigen Biases – also Verzerrun
gen – dieser Forschung nachzeichnet.

Hengartner berichtet, wie „schockiert“
viele Ärzt*innen sind, wenn er ihnen in
Vorträgen die tatsächliche Forschungs
lage zu Antidepressiva schildert. Man
kann das Buch gut als Nachschlagewerk
zu fast allen nur denkbaren Einzelfragen
zu Antidepressiva nutzen. So hätte ich
mir als einzige Kritikpunkte ein ausführ
licheres Stichwortverzeichnis und mehr
Zwischenüberschriften zur Orientierung
gewünscht. „Evidence biased Antide
pressant Prescription“ ist geeignet für
alle, die sich für die Wissenschaft hinter
diesen massenhaft verordneten Medi
kamenten interessieren und gern wach
an diese Thematik herangehen wollen.

(erschienen in Psychotherapeutenjournal 1/2022)