Der kurze Sprung von psychischer Gesundheit zur Krankheit

 
 
 

Spektakulär begründete die US-Turnerin Simone Biles ihren Rückzug von Olympia mit mentalen Problemen. Aber ist da wirklich eine individuelle Sportlerin gescheitert, fragt der Psychotherapeut Thorsten Padberg. Oder das System des Leistungssportes?

Wenn sich Sportler:innen dazu entscheiden, nicht länger vor einem leistungsorientierten Publikum herumzuturnen, warum wird das dann fast automatisch zu einem „Mental Health“-Thema?

Die Reaktionen auf das Ausscheiden von Simone Biles bei den Olympischen Spielen bezeichnet die „Taz“ als „Lovestorm“ und sieht die Geschehnisse als: „hoffnungsvolles Signal für uns alle: Vielleicht ermutigt Biles’ Offenheit auch Menschen in anderen gesellschaftlichen Bereichen, in denen normalerweise nur Erfolge zählen, sich ihren mentalen Problemen zu stellen.“

Entsteht also mehr gesellschaftliche Rücksichtnahme, wenn wir Sportlern zujubeln, die öffentlich zu ihren psychischen Problemen stehen? Nicht unbedingt.

Rückzug wird schnell mit Depressionen begründet 

Es ist gut, wenn wir über unser Befinden sprechen. Biles gilt als „Greatest of All Time“. Umso besser, wenn eine über ihre Schwächen spricht, die zuvor zu einer übermenschlichen Kunstfigur hochgejazzt wurde. Weniger gut ist es, wenn das Eingeständnis der eigenen Überforderung dann fast automatisch in der Sprache psychischer Probleme verfasst wird.

Es ist gut, wenn wir über unser Befinden sprechen. Biles gilt als „Greatest of All Time“. Umso besser, wenn eine über ihre Schwächen spricht, die zuvor zu einer übermenschlichen Kunstfigur hochgejazzt wurde. Weniger gut ist es, wenn das Eingeständnis der eigenen Überforderung dann fast automatisch in der Sprache psychischer Probleme verfasst wird.

Schnell ist von Depressionen die Rede: So auch schon im Fall des japanischen Tennisstars Naomi Osaka, die bereits im Juni mit Hinweis auf ihre psychische Gesundheit aus einem Wettbewerb ausschied. Statt über die übermenschlichen Erwartungen im Leistungssport zu sprechen, wird der Rückzug als Bekenntnis zu einer Krankheit gelesen.

Zugleich wird betont, wie wichtig es sei, dass wir alle so wie die Stars kontinuierlich an unserer psychischen Gesundheit arbeiten. Die Sprache der Psychopathologie lenkt von den Problemen im Leistungssport ab, seiner Kommerzialisierung und der geringen Rücksichtnahme auf die Athlet:innen.

Warum wird nicht der Leistungsdruck problematisiert, sondern die Psyche der Betroffenen?

 

Ständige Pflicht zu Höchstleistungen

Aus einem systemischen Problem im Sport wird dann eine individuelle Störung gemacht. Es sei Zeit für „Mindfulness“ sagte Biles bei einer Pressekonferenz, in der sie ihr Ausscheiden begründete, also Zeit für die im Bereich der Mental Health beliebten Technik der Achtsamkeit.

Andere prominente Sportler, die öffentlich über ihre Depressionen sprachen, wie Fußballer Sebastian Deisler und Trainer Ottmar Hitzfeld vom FC Bayern, benannten die Einnahme von Antidepressiva als Lösung ihrer Probleme.

Ach, wären sie nur psychisch gesund geblieben, dann hätte es auch keine Probleme im Sport, mit Druck und ständiger Pflicht zu Höchstleistungen gegeben. Sind Psychotherapie und Psychopharmaka die Lösung, wenn ein erbarmungsloses Leistungsprinzip das Problem ist?

Psychopharmaka für die Fitness

Wenn wir unsere Aufgaben nicht mehr erfüllen können, dann sollen wir an uns arbeiten. Wir sollen uns selbst erkennen, unsere Ressourcen stärken und resilienter, also widerstandsfähiger werden. Beim nächsten Mal nicht wieder so schnell einknicken.

Wie praktisch für die Verantwortlichen im Sport und anderen gesellschaftlichen Bereichen, denn sie brauchen gar nichts zu tun, während wir uns für sie fit machen. Wir können dann weitermachen wie zuvor, „mehr desselben“ leisten, nur ohne Symptome.

Das können wir nicht wollen – auch als Zuschauer von Olympischen Spielen nicht. Und wir sollten nicht vergessen: Sport ohne Leistungsdruck kann heilsam sein. In therapeutischen Laufgruppen geht es nicht darum, wer der oder die Beste ist, sondern darum, sich gegenseitig zu unterstützen, sich auf ein gemeinsames Ziel der Anstrengungen zu einigen und sich beim Laufen näherzukommen.

Dieser gute Umgang miteinander steigert das Wohlbefinden, vielleicht selbst bei denjenigen, die so gut sind, dass sie uns bei Olympischen Spielen mit ihrem Sport Freude bereiten.