Inflationärer Gebrauch des Traumabegriffs: Verloren in der Rückschau

 
 
 

Der Begriff Trauma war den Opfern schrecklicher Ereignisse vorbehalten. Heute wird er inflationär für schlechte Erfahrungen in der Vergangenheit benutzt. Der Verhaltenstherapeut Thorsten Padberg kritisiert diese erstaunliche Karriere eines Konzeptes.

Haben Sie Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren? Schieben Sie dringliche Aufgaben vor sich her? Zieht sich Ihr Studium länger hin als gewollt? Dann könnten Sie traumatisiert sein.

Das jedenfalls behauptet der Spiegel-Bestseller „Bin ich traumatisiert?“. Der begleitende Podcast zum Thema „Prokrastination als Traumafolge“ hat auf Youtube über 120.000 Aufrufe. Beiträge auf Tiktok mit dem #Trauma verzeichnen über sechs Milliarden Klicks!

Erstaunliche Karriere eines Konzeptes

Eine steile Karriere, die das heute allgegenwärtige Traumakonzept hingelegt hat – in erstaunlich kurzer Zeit.

Erst 1980 wurde die Postraumatische Belastungsstörung PTBS in die Diagnosekataloge psychischer Störungen aufgenommen. Endlich wurde offiziell anerkannt, dass von außen kommende Ereignisse für Menschen überwältigend, ja schädigend sein können.

Anlass waren die Erlebnisse von Vietnamveteranen, die sich von der US-amerikanischen Regierung bezüglich der Kriegsziele getäuscht fühlten. Die Fachwelt definiert Trauma seither als „emotionale Reaktion auf ein schreckliches Ereignis wie einen Unfall, eine Vergewaltigung oder eine Naturkatastrophe“.

Trauma und Trauriges verschwimmen

Doch dabei ist es nicht geblieben. Später wurde auch alltägliches und chronisches Elend zum Trauma-Auslöser erklärt. Häufig dabei im Zentrum: Mutter, Vater, Kind. Die Kernfamilie. So kann alles traumatisieren, was Eltern getan haben, aber auch fast alles andere.

Eine sogenannte „holistische Psychologin“ mit über fünfeinhalb Millionen Followern auf Instagram weiß: „Kindheitstraumata sind nicht nur Folge dessen, was Du erlebt hast, sondern auch dessen, was Du nicht erlebt hast.“

Wenn die Eltern beispielsweise Schwierigkeiten hatten, zu Fehlern zu stehen, oder selbst schlechte Problemlöser waren, dann gilt ihr auch das als Trauma. Das Traumatische verschwimmt mit dem schlicht Traurigen.

Der Begriff verliert an Wert

Durch Inflation sinkt der Wert einer Währung. Auch Begriffe verlieren an Wert, wenn sie inflationär gebraucht werden. Traumata wie Krieg, Vergewaltigung oder Naturkatastrophen sind schwerwiegende Lebenseinschnitte, die vieles zerstören, was wir uns bis zu diesem Zeitpunkt aufgebaut hatten.

Lassen Sie uns dieses Leid nicht entwerten, indem wir es zum Modell für alle unsere Nöte machen.

Denken Sie an die Geschichte eineiiger Zwillinge, bei der Geburt getrennt, die später beide zwanghaft ordentlich wurden. Warum? „Weil meine Adoptivmutter selbst sehr ordnungsliebend war“, erzählte der Erste, „ich konnte nicht anders, als es von ihr zu übernehmen.“ „Ganz einfach“, antwortete der Zweite, „ich reagierte auf meine Adoptivmutter, die sehr schlampig war.“

Vermeintliche Übermacht der Vergangenheit

Hier wird die Vergangenheit im Elternhaus zur Ursache für die Zukunft und wirkt — nach heute verbreiteter Lesart — in jedem Fall traumatisch. Eine zu simple Lesart, deren Unwiderlegbarkeit als Nachteil gelten muss.

„Innen drin bleiben wir immer Kinder“, behauptet die aktuell sehr populäre Schematherapie. Das betrachtet uns lebenslang als Opfer, denn Kinder sind oft wirklich hilflos. Wir glauben an die heilsame Wirkung einer „Traumatherapie“, in der wir die an uns begangenen Sünden beichten. Statt einer Lösung für die Probleme der Gegenwart fordern wir Erlösung für das „Innere Kind“.

Liegt unser zukünftiges Glück also in der detaillierten Betrachtung einer missratenen Vergangenheit? Dann bleibt uns nur abzuarbeiten, was in unseren ersten Lebensjahren mit uns passiert ist, ein endloser Versuch der Kompensation dessen, was schon geschehen ist.

Dem Leben eine eigene Agenda geben

Der Psychotherapeut Ben Furman glaubt das nicht: „Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit“, heißt eines seiner Bücher. Eine solche Kindheit entsteht, sobald wir erste Schritte in eine selbst gewählte Zukunft machen und dann aus einer neuen Perspektive in die Vergangenheit blicken.

Die Vietnamveteranen nutzten ihr Leid zum politischen Protest gegen ihre Regierung. Viele vor allem junge Menschen werden heute gegen die sich ankündigende Naturkatastrophe des Klimawandels aktiv. Bedenken wir also, was wir wollen und setzen unserem Leben eine eigene Agenda.