Rezension: Bergin & Garfields Handbuch der Psychotherapie

 
 
 

Irgendwas mit Wissenschaft

Thorsten Padberg zu „Bergin und Garfields Handbuch der Psychotherapie und Verhaltensmodifikation“, das nun erstmals in deutschsprachiger Übersetzung erschien: Fünf Versuche der Verortung.

Im Regal

Bei ihrem ersten Besuch durchforschte eine ältere Dame mein Sprechzimmer und stellte, als sie keine Couch fand, verblüfft fest: „Eine richtige Praxis ist das hier aber nicht!“ Professionelle Gemeinschaften sind – neben einer Sammlung von Theorien und Praktiken – durch typische Erkennungszeichen gekennzeichnet, wie etwa Titel, bestimmte Instrumente oder eben Möbel, Geschichten, Anekdoten und Symbole. Besser, man schmückt sich mit ihnen, will man unhinterfragt dazugehören. Die Couch als überkommenes Symbol für die Expertise im Umgang mit seelischen Problemen verliert zunehmend an Bedeutung. Ersetzt wurde sie in den vergangenen Jahrzehnten durch den Bezug auf die Wissenschaft. Allgemeine oder psychologische Psychotherapie nennt man das dann.


Doch womit zeigt ein Therapeut, dass er echter Wissen- schaftler nach dem aktuell favorisierten Scientist-Practitioner-Modell ist? Er braucht aktuelle Erkennungszeichen seiner Profession, beispielsweise den Einband von Bergin und Garfields Kompendium der Psychotherapieforschung. Am besten stellt er das Buch so ins Regal, dass es gut zu sehen ist. Durch eingelegte Notizzettel, Unterstreichungen und Anmerkungen im Text lässt er alle, die etwas davon verstehen, wissen: „I was here“. Die Anschaffung, dies sei schon jetzt gesagt, wird daher in jedem Fall empfohlen. [...]

 

In der Praxis

Seriös und evidenzbasiert soll die Praxis sein und sich dabei auf die Erkenntnisse der Forschung stützen. Hier im Handbuch sind diese Erkenntnisse zu finden – wenn man denn hineinschaute. Die Herausgeber der deutschen Ausgabe scheinen zu befürchten, dass das nicht geschieht, raten sie dem Leser doch, sich nach und nach immer nur einem Kapitel zu widmen und sich so, mit viel Zeit, das Werk in seiner Gänze anzueignen. Ist das Buch vor allem als Platzhalter definiert? Für alles, was man wissen muss, wissen könnte oder wissen sollte?

Im Wettbewerb

Doch auch ungelesen erfüllt das Handbuch seine Funktion. Es verhält sich wie mit dem Urmeter in Paris: Nie reist man dorthin, um ihn zu prüfen. Man begnügt sich damit, dass es ihn gibt, und dass der Zollstock, mit dem man misst, wohl geeicht sein wird. Schließlich gibt es ja zu allem, was der Verhaltenstherapeut normalerweise macht, die eine oder andere Studie, und irgendwo auf all den Seiten wird sie zu finden sein. Ähnlich gehen in Psychotherapie und Gesund- heitswesen wohl viele vor. [...]

Im Gesetz

Für die praktische Arbeit muss das in Zahlen gefasste Wissen erst wieder rückübersetzt werden. Damit sind nicht die hier vorliegenden Übersetzungen aus dem Englischen gemeint, die fast durchweg gut gelungen sind. Der Löwenanteil der Arbeit muss erst noch von denjenigen gemacht werden, die die gesammelten Erkenntnisse in die Praxis übersetzen sollen, nämlich von den Psychotherapeuten selbst. Denn die Metaanalysen, das lernen wir gleich zu Beginn, „liefern politisch handlungsleitende Informationen“, sie sind nicht nur beschreibend, sondern vor allem auch vorschreibend: Sie geben an, wie sich Psychotherapeuten zu verhalten haben. [...]

 

 
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